Holocaust-Zeitzeugenbegegnung

Prägender Zeitzeugenbesuch

Am 14.November versammeln sich die Schüler des E-Jahrganges und der Q2 (die Q1 war leider im Praktikum) vor dem Rathaus der Hansestadt Lübeck, unwissend darüber, was im Folgenden auf sie zukommt. Natürlich wurde die Shoah im Unterricht bearbeitet, hatte man sich mit der Rolle von Zeitzeugen auseinandergesetzt – aber das war die Theorie. Wie würde es sein, eine Person zu treffen, die die Shoah miterlebt hatte? Als alle auf den Stuhlreihen im Audienzsaal Platz gefunden haben, füllt schnell andächtige Stille den Raum. Alle schauen gespannt nach vorne: Dort sitzt der 97-jährige Albrecht Weinberg. Weinberg hat die Grauen nationalsozialistischer Konzentrationslager überlebt und es sich zur Aufgabe gemacht, seine Geschichte zu erzählen. Er beginnt damit, aus seiner frühen Kindheit in einem ostfriesischen Dorf zu erzählen, wie er als jüdischer Junge immer mehr ausgegrenzt wurde, wie die Nachbarn seine Familie immer weiter mieden und aus der Gemeinschaft ausschlossen.

,,Ich darf mit dir nicht mehr spielen; meine Eltern erlauben es mir nicht.‘‘

 

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Nach der Reichsprogromnacht am 9.September 1938 wurde er von einer jüdischen Hilfsorganisation auf einen Gutshof in der Nähe von Breslau geschickt. Ein Ort der Ruhe und Freiheit ohne Ausgrenzung, bis im April 1943 auch dort die Nazis mit den Deportationen nach Auschwitz beginnen. Diese treffen auch ihn.

,,Wir wussten ja gar nicht was Auschwitz war. Wir dachten, wir müssen da arbeiten, Schützengräbern für die Soldaten ausheben.‘‘

 

Fast drei Jahre lang überlebt Weinberg Auschwitz, bis er nach Bergen-Belsen über Neuengamme deportiert wird. Berge von Leichen finden sich dort, ihrer Menschlichkeit abgesprochen, all das hat er erlebt und von all dem berichtet er.

,,Unsere einzige ‚Kriminalität‘ war unsere Religion, dass wir Juden waren.‘‘

Nach der Befreiung durch die Briten baut er sich mit seiner Schwester, die als einzige aus seiner Familie überlebt hat, ein Leben in Amerika auf, arbeitet wie sein Vater als Fleischer. Erst im späten Alter kehrt er in seinen Geburtsort, Ostfriesland, zurück: Auch wenn ihn dort nichts hinzieht, kehrt er dennoch zurück, um seine Geschichte zu erzählen.

Auf die Frage, ob er auf Rache sinne, kennt er nur eine Antwort: Er habe sich in dieser Zeit nicht wie ein Mensch gefühlt, sondern nur wie ein Tier versucht zu überleben. Direkt nach dem Krieg habe er daher so große Wut verspürt, er habe die ganze Welt abstechen können. Aber Albrecht Weinberg hat es geschafft, wieder Mensch zu werden. Der Wunsch nach Rache wich dem Bedürfnis zu informieren, damit sich solche Gräueltaten nicht wiederholen. Dafür nahm er sich auch nach Ende der Veranstaltung die Zeit, mit jedem Schüler, den es dazu drang, ein persönliches Gespräch zu führen.

Weinberg hat uns an seiner sehr persönlichen Leidensgeschichte, die ihm unter den Nationalsozialisten widerfuhr, teilhaben lassen. Er hat sie so lebhaft beschrieben, wie es in der Schule niemals gelehrt werden könnte. Denn es ist gerade der emotionale Bezug, der Gedenkkultur nachträglich prägt. Ein Gedenken, das auch für die Erzählenden immer wieder eine Begegnung mit den Traumata bedeutet, aber auch eine Arbeit für Demokratie und Toleranz, die in unserer heutigen Zeit immer wichtiger wird.

Wir möchten besonders Herrn Weinberg für diese Begegnung danken, eine Begegnung, die in unserer Gesellschaft von so großer Bedeutung ist, zu der es in Zukunft aber immer weniger Möglichkeiten geben wird. Umso überwältigter sind wir, dass wir noch einen Zeitzeugen erleben durften. Unser Dank gilt auch seiner Begleitung (Moderation und Fahrt), Frau Hannemann (Vereine Yad Ruth und Miteinander leben) für Finanzierung und Organisation, der Stadt Lübeck für die Nutzung des Audienzsaales. Herzlichen Dank für diese prägende Gelegenheit!

Charlotte, Q2b

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